Ida Kammerloch, „Aren’t you afraid to swing on russian swings“, Installationsansicht
Ida Kammerloch, „Aren’t you afraid to swing on russian swings“, Installationsansicht

Einblicke in die russische Seele

Ida Kammerloch zeigt einen sechzigminütigen Film und gewährt einen Einblick in das russische Leben ihrer Familie.

Ida Kammerloch (geb. 1991 in Ischewsk, Russland) studierte von 2012 bis 2017 Freie Kunst an der HBKsaar und war anschließend bis 2019 Meisterschülerin bei Eric Lanz. Inzwischen studiert sie „TransArts“ an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Kammerloch arbeitet in ihren transdisziplinären Werken mit Fotografie, Video und Installation. Ihre Arbeiten zeigen häufig gesellschaftliche Fehlentwicklungen auf. Im Mittelpunkt standen dabei bisher häufig Darstellungskonventionen des Weiblichen.

In ihrer neusten Arbeit „Aren’t you afraid to swing on russian swings“ (dt. „Hast du keine Angst auf russischen Schaukel zu schaukeln?“) setzt sich Kammerloch anhand der Geschichte ihrer Familie mit der Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinander. Die Arbeit berichtet vielfältig vom Missverhältnis von Freiheit und Konsum und dem verworrenen Beziehungsgeflecht von Mensch und Ware, erzählt aber auch vom sehr persönlichen Erinnern und Vergessen.

Grundlage des 60-minütigen Films ist das Videoarchiv von Kammerlochs Großvater mit mehr als 400 Stunden Material. Anhand ihrer Familiengeschichte macht die Künstlerin den Transformationsprozess der russischen Wirtschaft erfahrbar und stellt damit auch die gesellschaftlichen Verwerfungen dar. Es zeigt aber auch, welche Rolle die Familie in Zeiten von großer Unsicherheit und gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen bedeutet.

Ende der 1980er Jahre wird durch die größere Offenheit der sowjetischen Regierung unter Michael Gorbatschow im Rahmen von Glasnost offenbar, welchen Lebensstandard der Westen pflegte. Das heizte das Konsumverhalten in der UdSSR an. Die wachsende Nachfrage nach Konsumgütern konnte der sowjetische Handel aber nicht befriedigen. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus zerfiel auch das Wirtschaftssystem. Gehälter wurden nicht gezahlt, Fabriken schlossen, die Inflation schoß in die Höhe. Gleichzeitig führte die Aufhebung der Reisebeschränkungen und das Fehlen von Zollbestimmungen zu neuen Einkommensquellen. Viele Russen pendelten zwischen Russland und dem Ausland hin und her und importierten mit Koffern Konsumgüter, die sie auf der Straße verkauften. Mitte der 1990er Jahre sollen bis zu einem Drittel der Russen als Straßenhändler gearbeitet haben. Es sicherte ein bescheidendes Auskommen und die Existenz. 

Die Kofferhändler werden zu einer wirtschaftlichen Macht. In den Jahren 1995/96 versorgten die Händler den russischen Markt mit 70 Prozent aller Kleidungsstücke und Stoffe, 30 Prozent des importierten Fisches und Fleisches kam von den Straßenhändlern und 50 Prozent der Fernsehgeräte. Trotzdem galt der Straßenverkauf der importierten Waren als schändlich, die Händler als verzweifelt und arm. Mit der Wirtschaftskrise im Jahr 1998 und dem Zusammenbruch des Rubels nahm der Verkauf ein jähes Ende.

Auch Kammerlochs Großeltern gehören in dieser Zeit zu den Kofferhändlern und verkauften chinesische Waren, obwohl sie gut ausgebildete Akademiker waren. Um ihre Existenz nach dem Ende der Sowjetunion zu sichern, mussten sie auf die Straße. Die alten Aufnahmen beweisen aber, dass sich die Familie damit bescheidenen Wohlstand erarbeitet hatte. Kammerlochs Großvater war ein begüterter Videofilmer, der damit sein Leben dokumentierte, etwa als er in China auf einem Markt einkauft.

Ida Kammerloch zeichnet nicht nur die Familiengeschichte nach, sie begibt sich auf eine Reise in das Russland von heute und gewährt Einblick in das Leben der Großeltern. Der Film ist wirklich berührend und es lohnt sich, ihn ganz zur schauen. Ich bin 1971 geboren und im Kalten Krieg in Deutschland aufgewachsen. Russland war der Feind, der uns bedroht, die Russen raubeinige Menschen, die gerne viel trinken. Für mich war und ist Russland immer einer fernes Land geblieben, dessen Seele ich nie so richtig verstanden habe. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist das nicht besser geworden und die blödsinnigen Stereotype im Kopf nicht kleiner. Kammerlochs Film hat das geändert. Schon die Großeltern sind so sympathisch, dass man bei ihnen gerne Gast wäre, um sich mit ihnen bei einer Tasse Tee zu unterhalten. Ihr Lebensgeschichte ist spannend und von zahlreichen Brüchen geprägt, ihr Leben alles andere als einfach. Und trotzdem spürt man, dass sie im Grunde zufrieden sind. Und man versteht Russland ein kleines bisschen besser.

Instagram: https://www.instagram.com/idakammerloch

Website: https://idakammerloch.net

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