Die alltägliche Gefahr

Die Berliner Künstlerin Claudia Brieske vermittelt in ihrer Installation "Falling Forward Slightly" ein Gefühl steter unterschwelliger Gefahr. Wie lebt es sich damit?

Eigentlich wollte Claudia Brieske ja schon 2020 nach Istanbul reisen, um dort zu arbeiten. Doch die Covid-19-Pandemie macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie begann virtuell durch Istanbul zu streifen, studierte die Stadt vor allem online und zeichnete viel. Erst im folgenden Jahr konnte sie in die Metropole reisen und dort filmen und Soundaufnahmen machen.

Brieske (*1966 in Meppen) studierte 1986 bis 1990 Malerei an der Kunstakademie Florenz und von 1991 bis 1995 Bildhauerei und neue künstlerische Medien an der HBKsaar. Sie lebt in Berlin und arbeitet vor allem als Klang- und Videokünstlerin. In der Installation „Falling Forward Slightly“ im Keller des Saarländischen Künstlerhauses führt sie ganz unterschiedliche Aspekte ihres Schaffens zusammen.

Die beiden großen Projektionen im Zentrum des Raumes zeigen Szenen aus dem quirligen Leben des Stadtbezirks Beyoğlu. Man sieht die Menschen bei ihren alltäglichen Beschäftigungen, Szenen aus dem Stadtleben, den Schmutz der Straßen, die Architektur und den lebendigen Charme des Viertels zwischen Moderne und Tradition. Ergänzt werden die Videoaufnahmen von Tönen aus dem Stadtleben, die Brieske dort aufgenommen hat und mit Instrumentenklängen mischt. Links drei Leuchtkästen mit Fotos, die einen Stuhl bei Google Street View aus unterschiedlichen Entfernungen zeigen. Brieske hatte ihn bei ihren Recherchen in einer der kleinen Seitenstraßen entdeckt. Bei ihrer Reise im folgenden Jahr stand der Stuhl nicht mehr da, aber sie fand andere Stühle in den Straßen, die sie immer wieder unter die Szenen mischte. Auf einem kleinen Bildschirm rechts sieht man ein Hotelzimmer, klein und ein bisschen verwohnt, mit Blick auf einen Hinterhof.

Videos und Klänge verschmelzen zu einer gemeinsamen Komposition. Es entsteht recht schnell das diffuse Gefühl eines herannahenden Unglücks. Es passiert nichts Weltbewegendes. Nichts deutet konkret auf eine Katastrophe hin und doch spürt man, dass jederzeit etwas passieren kann und wartet schon darauf, dass der nächste Schnitt das Unheil offenbart. Doch es geschieht nichts.

Dieses Unbehagen ist künstlerisch perfekt inszeniert und spielt sich vorrangig beim Betrachter ab. Der Stuhl, der da so verlassen herumsteht, dazu das Hotelzimmer, eng und dunkel, die Klänge, die den Eindruck nur verstärken. Brieske spielt auf die Situation der Stadt an, die in einem Erdbebengebiet liegt. Wissenschaftler warnen schon länger davor, dass in und um Istanbul jederzeit eine Katastrophe geschehen kann, die Tausende Menschenleben fordern würde und die Stadt in Schutt und Asche legt. Immer wieder wird die Türkei von schweren Erdbeben erschüttert, zuletzt im Februar dieses Jahres an der türkisch-syrischen Grenze. die Menschen leben in diesem Bewusstsein der Gefahr. Sie ist Alltag, wird verdrängt und ist doch allgegenwärtig.

Die Klänge hat Brieske auf Vinylschallplatten gepresst. Geradezu spürbar wird, wie die Nadel einem Seismografen gleich über die Höhen und Tiefen der Plattenrillen tastet. Dabei sind die Plattenspieler auf hohen Sockeln aus Stahl und Beton präsentiert, die wie Hochhäuser anmuten und jederzeit umstürzen könnten. Die ganze Installation ist so fein und subtil in Szene gesetzt, dass die Szenerie den Betrachter sofort erfasst und er sich dem Gefühl kaum entziehen kann. Ganz große Kunst! 

Internet: https://www.claudia-brieske.net/

Instagram: https://www.instagram.com/claudiabrieske/

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