Anne-Marie Stöhr (geb. 1969 in Saarbrücken) wuchs in Frankreich auf, lebte ab 1980 in Deutschland, zog aber 1986 nach Schweden, wo sie 1989 bis 1991 Malerei in Göteborg studierte. Ab 1992 studierte sie dann an der HBKsaar bei Bodo Baumgarten und Ulrike Rosenbach. Stöhr lebte mehr als 19 Jahre in Kalifornien und kehrte 2019 wieder nach Saarbrücken zurück.
Stöhr schwelgt in ihren Arbeiten in Licht und Farbe. Ihre abstrakten Arbeiten spielen mit der Grenze zwischen Abstraktion und Figuration und bleiben doch immer so vage, dass die Form den Betrachter immer mal wieder an Figuratives erinnert, aber immer im Ungefähren bleibt. Immer wieder setzt sie horizontale oder waagerechte Linien oder setzt geometrische Formen, die an eine weibliche Figur erinnern.
Immer wieder spielt Stöhr mit unserem Wahrnehmungsvermögen, gaukelt den Eindruck von Raum und Tiefe vor, indem sie den Hintergrund in Tuschefarben verschwimmen lässt und in den Vordergrund ein scharfes Formenspiel setzt. So suggeriert sie räumliche Tiefe mit einfachsten Bildmitteln. Intensiv spielt sie mit der Materialität der Farbe, etwa wenn sie Tusche einsetzt, die sie zerfließen lässt. Um die Wirkung noch zu verstärken, nutzt die Künstlerin besondere Papiere und führt uns so bewusst vor Augen, wie sehr das Material die Wirkung beeinflusst.
Während mattere Aquarellpapiere die Farbe leicht aufsaugen und so einen opaken Eindruck vermitteln, malt Stöhr auch auf „Yupo-Papier“, einem synthetischen Papier, dass die Farbe nicht aufnimmt. So schwimmt die Tusche auf der Fläche, bildet transluzente Wölkchen oder satte Farbschlieren. Die Gemälde entstehen in einem prozesshaften Malakt. Das Malen gewinnt einen performativen Charakter, der Bildinhalt ist nicht vorher festgelegt, sondern entsteht während des Malens.
Inzwischen arbeitet die Künstlerin sich auch in die dritte Dimension vor. Sie trägt farbigen Tuschen auf Yupo-Papier aus Polypropylen auf und setzt das synthetische Papier Hitze aus. Das Material brennt nicht einfach ab, sondern verhält sich wie Plastik: Die Wärme schmilzt Löcher in den Bildträger, der sich biegt und wellt. Das Material krümmt sich und hebt sich in den Raum. Fast pulsierend scheinen sich diese Plastiken zu bewegen.
Mit ihrer Arbeit „Abstraktion im Anthropozän 2“ im Museum Ludwig Galerie führt sie diesen Weg weiter. Stöhr besetzt zwei Kabinette in dem Museum und lagert eine Wand vor. Ein Raum ist in breiten vertikalen Bändern in warmen Rot-Tönen gestrichen, der andere in kühlen Blau-Tönen. Als farblicher Kontrapunkt dienen Yoga-Blöcke in knalligem Neonrot. Eigentlich dienen diese leichten Blöcke aus Kork, Holz oder Kunststoff als Hilfsmittel bei Körperstellungen im Yoga. Hier sind sie allerdings aus schwerem Ziegelstein und brechen das allzu ruhige Bild und brechen die sakrale Atmosphäre etwas.
Stöhr bezieht sich auf die Farbentheorie des Künstlers und Kunsttheoretikers Josef Albers (sehr lesenswert: „The Interaction of Color“) und dessen Annahme, dass sich die subjektive Wahrnehmung einer Farbe durch das Zusammenspiel mit einer anderen Farbe verändert.
Tatsächlich ist erst einmal erstaunlich, wie unterschiedlich die Räume schon für sich genommen wirken und wie die unterschiedlichen Farbtöne eines Raumes sich beeinflussen, an und abschwellen, sich verstärken oder schwächen. Spannend wird es dann, wenn man die Durchblicke nutzt, um die Farben gleichzeitig zu sehen. Da Farbwahrnehmung etwas höchst Individuelles ist, wie schon Albers wusste, hilft hier nur das genaue Schauen und Erfassen. Wird das Blau weniger kalt, das Rot etwas kühler? Macht es vielleicht keinen Unterschied? Es macht riesigen Spaß, das auszuprobieren.
Für Stöhr gibt es aber noch einen weiteren Punkt: Stöhr interessiert sich für die Abstraktion im weitesten Sinne und verweist darauf, dass insbesondere die Fähigkeit zum abstrakten Denken es dem Menschen ermöglicht, schöpferische Visionen zu entwickeln. Tatsächlich ist es die Abstrahierung von Problemen, die häufig zu schöpferischen Prozessen führt, die zur Lösung führt. Stöhr setzt auf einen Vergleich und zieht Parallelen zwischen dem Geistigen in der Kunst und dem Geistigen in spirituellen Lehren wie dem Yoga. Die Matten am Boden waren Teil einer Yoga-Performance bei der Eröffnung. Immer wieder werden in den nächsten Wochen auch Yoga-Kurse stattfinden, die Matten dürfen aber auch von den Besucher*innen benutzt werden, um sich darauf auszuruhen und Farbe und Raum in sich aufzunehmen. Das sollte man auch unbedingt nutzen.